Montag, 23. Februar 2015

Hirn hilft vor Untergang im Wissensstrom

Wenn ich mich nicht entscheiden kann oder eine Meinung benötige, begebe ich mich auf Wissenssuche. Nachdem ich mir all die mehr oder minder sachlichen Argumente meiner Freunde und Kollegen angehört habe, befrage ich auch gern die Wissenschaft. Gestern noch war das eine übersichtliche Angelegenheit, denn das zugängliche Wissen zu einem Thema war ein dünnes Rinnsal. Wollte ich etwas über den Begriff „Individualismus“ wissen, konnte ich je nach Ausmaß des Wissensdursts im Brockhaus nachschlagen, eine Wissenssendung im Fernsehen anschauen, ein Sachbuch zum Thema lesen oder mich in die Bibliothek begeben, um eine ausführliche Recherche unter Zuhilfenahme von Karteikästen zu starten. Heute, nach dem WWWandel, existieren digitale Versionen dieser Wissensquellen. Ich gebe das Wort „Individualismus“ bei Wikipedia, Youtube, Amazon oder Google-Scholar ein.
Auch nicht komplizierter als vorher – könnte man meinen. Solange ich nur ein Schlückchen Wissen nehmen möchte, ist auch noch alles halbwegs in Ordnung. Wikipedia liefert mir recht ähnlich zum Brockhaus einen Eintrag, wenngleich mit der Anmerkung versehen, dass er nicht ausreichend gut recherchiert ist. Nun gut, was weiß ich über die Recherchequalität des Brockhaus außer, dass er teuer und verbreitet ist. Sobald mich aber nach mehr dürstet, strömt von allen Seiten her Wissen auf mich ein. War ich früher froh, überhaupt eine Sendung, ein Buch oder eine Karteikarte zu meinem Thema zu finden, stoße ich heute auf überabzählbare Listen von Treffern.
Toll – könnte man meinen. Ich bin nicht mehr auf eine Quelle angewiesen, kann mich einer Vielfalt von Perspektiven widmen und der Komplexität des Themas gerecht werden. Da ich aber keine Doktorarbeit zum Thema „Individualismus in Zeiten des WWW“ schreibe, muss ich den Wissenszufluss zeitlich begrenzen: ein paar Stunden für eine Sendung oder ein Buch – selbst für eine intensivere Recherche ist nicht mehr als ein Tag drin. Das bedeutet für die Trefferliste, dass ich weniger als hundert anklicke und mich mit weniger als zehn auseinandersetze – schlussendlich bleibt ein Treffer hängen.
Na gut – könnte man meinen. Ist auch nicht weniger als vorher, nur mit dem Plus, dass ich nicht mehr von der subjektiven Auswahl der Sende-, Verlags- oder Bibliotheksleitung abhängig bin, sondern die Suchmaschine mir die passenden Treffer auf der Basis der Volksweisheit zuoberst serviert. Jedoch die Masse schwimmt mit dem Strom und ist in der Wahl ihres Weges bestechlich: zum Beispiel durch große, bunt blinkende Wegweiser, denn das Auge ist schneller als das Hirn, nur leider dessen Eingangstor. Und damit nicht genug, die Wissensabfüller nutzen dies in ihrem Sinne – der Erhöhung der Klickrate – aus. Sie reichern ihr profanes Leitungswasser geschickt mit Farbe, Lärm und all dem an, was wissenschaftlich erwiesen dem Aufmerksamkeitsheischen dient.
Schlecht – könnte man meinen. Muss ich mich wohl damit abfinden, dass ich nichts wissen kann, dass ich von den Informationsfluten hinweg getragen werde. Oder wie soll ich die Wissensbereitsteller dazu anhalten, ihre Informationen sorgfältiger zu sammeln und ehrlicher zu verpacken als die Wasserabfüller?

Ich kann jammern und flehen oder mein Hirn nutzen. Als Staudamm zwischen Auge und Finger, der verhindert, dass ich auf alles hyperaktiv klicke und das Wissen überflutet. Als Testlabor, das die Güte des Wissens prüft, anstatt auf die Herstellerangaben zu vertrauen. Als Antrieb, der es mir ermöglicht, der Auslegung des Wissens durch angebliche Autoritäten zu trotzen und meine Ausrichtung selbst zu bestimmen. Letztendlich liegt die Verantwortung, ob ich mit meinen Entscheidungen und Meinungen den vorläufigen Erkenntnissen der Wissenschaft folge oder nicht, bei mir und ist eine Frage an mein individuelles Gewissen. Gegen den Strom schwimmen kostet Kraft. Heute wie gestern.

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