Wenn ich mich nicht entscheiden kann
oder eine Meinung benötige, begebe ich mich auf Wissenssuche. Nachdem ich mir
all die mehr oder minder sachlichen Argumente meiner Freunde und Kollegen
angehört habe, befrage ich auch gern die Wissenschaft. Gestern noch war das
eine übersichtliche Angelegenheit, denn das zugängliche Wissen zu einem Thema war
ein dünnes Rinnsal. Wollte ich etwas über den Begriff „Individualismus“ wissen,
konnte ich je nach Ausmaß des Wissensdursts im Brockhaus nachschlagen, eine
Wissenssendung im Fernsehen anschauen, ein Sachbuch zum Thema lesen oder mich
in die Bibliothek begeben, um eine ausführliche Recherche unter Zuhilfenahme
von Karteikästen zu starten. Heute, nach dem WWWandel, existieren digitale Versionen
dieser Wissensquellen. Ich gebe das Wort „Individualismus“ bei Wikipedia, Youtube,
Amazon oder Google-Scholar ein.
Auch nicht komplizierter als
vorher – könnte man meinen. Solange ich nur ein Schlückchen Wissen nehmen
möchte, ist auch noch alles halbwegs in Ordnung. Wikipedia liefert mir recht
ähnlich zum Brockhaus einen Eintrag, wenngleich mit der Anmerkung versehen,
dass er nicht ausreichend gut recherchiert ist. Nun gut, was weiß ich über die
Recherchequalität des Brockhaus außer, dass er teuer und verbreitet ist. Sobald
mich aber nach mehr dürstet, strömt von allen Seiten her Wissen auf mich ein. War
ich früher froh, überhaupt eine Sendung, ein Buch oder eine Karteikarte zu
meinem Thema zu finden, stoße ich heute auf überabzählbare Listen von Treffern.
Toll – könnte man meinen. Ich bin
nicht mehr auf eine Quelle angewiesen, kann mich einer Vielfalt von
Perspektiven widmen und der Komplexität des Themas gerecht werden. Da ich aber
keine Doktorarbeit zum Thema „Individualismus in Zeiten des WWW“ schreibe, muss
ich den Wissenszufluss zeitlich begrenzen: ein paar Stunden für eine Sendung
oder ein Buch – selbst für eine intensivere Recherche ist nicht mehr als ein
Tag drin. Das bedeutet für die Trefferliste, dass ich weniger als hundert
anklicke und mich mit weniger als zehn auseinandersetze – schlussendlich bleibt
ein Treffer hängen.
Na gut – könnte man meinen. Ist
auch nicht weniger als vorher, nur mit dem Plus, dass ich nicht mehr von der
subjektiven Auswahl der Sende-, Verlags- oder Bibliotheksleitung abhängig bin,
sondern die Suchmaschine mir die passenden Treffer auf der Basis der
Volksweisheit zuoberst serviert. Jedoch die Masse schwimmt mit dem Strom und ist
in der Wahl ihres Weges bestechlich: zum Beispiel durch große, bunt blinkende
Wegweiser, denn das Auge ist schneller als das Hirn, nur leider dessen
Eingangstor. Und damit nicht genug, die Wissensabfüller nutzen dies in ihrem
Sinne – der Erhöhung der Klickrate – aus. Sie reichern ihr profanes
Leitungswasser geschickt mit Farbe, Lärm und all dem an, was wissenschaftlich
erwiesen dem Aufmerksamkeitsheischen dient.
Schlecht – könnte man meinen. Muss
ich mich wohl damit abfinden, dass ich nichts wissen kann, dass ich von den
Informationsfluten hinweg getragen werde. Oder wie soll ich die Wissensbereitsteller
dazu anhalten, ihre Informationen sorgfältiger zu sammeln und ehrlicher zu
verpacken als die Wasserabfüller?
Ich kann jammern und flehen oder
mein Hirn nutzen. Als Staudamm zwischen Auge und Finger, der verhindert, dass
ich auf alles hyperaktiv klicke und das Wissen überflutet. Als Testlabor, das
die Güte des Wissens prüft, anstatt auf die Herstellerangaben zu vertrauen. Als
Antrieb, der es mir ermöglicht, der Auslegung des Wissens durch angebliche
Autoritäten zu trotzen und meine Ausrichtung selbst zu bestimmen. Letztendlich
liegt die Verantwortung, ob ich mit meinen Entscheidungen und Meinungen den
vorläufigen Erkenntnissen der Wissenschaft folge oder nicht, bei mir und ist eine
Frage an mein individuelles Gewissen. Gegen den Strom schwimmen kostet Kraft. Heute
wie gestern.
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