Freitag, 22. Januar 2016

Bitte um Geduld

Ich spreche mit euch über das politische Thema, das mich zurzeit am meisten bewegt. Ich spreche, um meine Gefühle und Gedanken zu reflektieren, um mehr Informationen zu bekommen, um mich mit andersartigen Meinungen auseinanderzusetzen. Allmählich verstumme ich. Denn meine Worte werden mir vorgeworfen, ich werde mit demagogischen Verschwörungsgeschichten beladen, mir werden unerschütterliche Wahrheiten präsentiert. „Aber“, rufe ich, „ich bin doch nur ein ahnungsloses Menschlein auf der ewigen Suche.“ Wieso darf ich nicht Angst fühlen, wenn ich Menschen begegne, deren Sprache ich nicht spreche und deren Kultur ich nicht kenne? Wieso darf ich nicht Mitgefühl empfinden, wenn ich Not sehe? Wieso darf ich nicht ratlos sein, wenn ich keine Lösung finde? Statt zu fühlen und zu denken, soll ich mich entscheiden – entweder dafür oder dagegen. Entweder Asylanten beschimpfen oder Nazis. Entweder Geflüchtete umarmen oder ausstoßen. Entweder offen für Neues oder Altes bewahren.
Neurowissenschaftler machen so genannte Spiegelneurone dafür verantwortlich, dass wir dazu in der Lage sind, die Gefühle der Anderen mitzuempfinden, zu spiegeln. Das nennen sie Empathie und halten dies für eine herausragende menschliche Fähigkeit. Ich glaube, dass diese Fähigkeit problematisch sein kann. Wir können uns nämlich nicht entscheiden, nicht mitzufühlen und manchmal ist das Mitfühlen so unangenehm, dass wir lieber nicht mitfühlen würden. Dann versuchen wir ganz schnell etwas dagegen zu tun, indem wir die Gefühle, die der Andere in uns auslöst, bekämpfen. Wir bekämpfen die Angst mit Wut: „Ich bin nicht ängstlich, ich bin stark!“. Die Hilflosigkeit mit Aktionismus: „Ich bin nicht hilflos, ich tue etwas!“. Die Verzweiflung mit Ideologie: „Ich bin nicht verzweifelt, ich weiß wo es lang geht!“. Die Bilder der Geflüchteten zeigen uns ängstliche, hilflose und verzweifelte Menschen. Was, wenn wir die unangenehmen Gefühle, die die Bilder in uns auslösen, aushalten und uns die Bilder genauer anschauen? Was, wenn wir uns den Menschen auf diesen Bildern öffnen, sie spiegeln und Verbindungen entdecken? Was, wenn wir erkennen, dass diese Menschen auch eine andere Seite haben, dass sie auch stark, dankbar und hoffnungsvoll sind?
Dann könnten wir anfangen über eine ganz andere Geschichte zu sprechen und das politische Thema, das mich so bewegt, wäre plötzlich verändert. Vielleicht wären wir offen für Altes und würden Neues bewahren oder geflüchtete Nazis umarmen und Beschimpfungen ausstoßen dafür und dagegen. Bis es soweit ist aber, bitte ich euch, wenn wir miteinander reden, um Geduld mit meinen Gefühlsverwirrungen, meiner Ahnungslosigkeit, meiner Unentschiedenheit.

Schnee

Und in diesem Schnee 
verliere ich all meine Tränen. 
Stürze in seine Fluten von 
weißen Kugeln getroffen,
sinke ich durch die Flocken
die Augen geschlossen vor der 
funkelnden Sonne.
  
Pulsiert das Blut warm 
in meinen Wangen, 
dass ich vergesse die Wunden 
der Kälte, den harten Stein
unter der wolkigen Decke.
Ich umarme den Schnee ganz fest.