Meine Tochter wächst in einer Welt auf, in der sie jederzeit
jeden Wunsch erfüllt bekommen kann, sogar Wünsche, von denen sie vorher nichts
wusste. Schön, denkt die Mutter und freut sich am
Glück. Jedoch nicht lange. Eine kleine Verzögerung, eine winzige Verletzung, eine
harmlose Kränkung und schon wird großes Drama geboten. Meine Tochter klagt über
Nichtigkeiten. Woher auch soll sie wissen, was Leid ist, wenn sie es nicht
kennt?
Wenn man Menschen eine Skala von positiv bis negativ gibt
und sie darauf Bilder, Wörter oder Erlebnisse einschätzen lässt, verteilen sie
die Skalenwerte mehr oder weniger gleichmäßig auf das angebotene Material
unabhängig davon, wie sich dieses in Relation zum in der restlichen Welt verfügbaren
Material verhält. Das heißt ein Bild von einem Stuhl wird positiv, wenn die
anderen Bilder blutende Terroranschlagsopfer zeigen, oder negativ, wenn auf den
anderen Bildern lächelnde Kleinkinder zu sehen sind. Das funktioniert sogar,
wenn wir die Größe eines identischen Kreises beurteilen sollen, der einmal von
kleinen Kreisen umgeben ist und einmal von großen – der Erstere wirkt größer.
Die Psychologen nennen diesen Effekt Kontrasteffekt. Da wir die meisten unserer
Urteile auf Dimensionen ohne Endpunkte fällen, benötigen wir einen
Vergleichsmaßstab, um urteilen zu können. Diesen Vergleichsmaßstab generieren
wir aus dem aktuell verfügbaren Material oder auch aus unserem
Erfahrungsschatz, wodurch das resultierende Urteil entsprechend verzerrt wird. Als
logische Konsequenz auf Urteile zu verzichten erscheint einleuchtend, doch
selten praktikabel, da jedwede Alltagsentscheidung von ihnen abhängt. Wir
müssen entscheiden, ob wir etwas essen sollten und dafür benötigen wir ein
Urteil über unseren Sattheitsgrad. In einer Welt in der wir eigentlich immer
satt sind, ist ein kleines bisschen weniger satt schon hungrig. Also essen wir
zu viel. Nur dass es nichts nützt, wir werden nicht mehr satter. Genauso wenig
wie wir uns weniger krank fühlen durch eine bessere medizinische Versorgung und
gesündere Lebensbedingungen. Und wir sind auch nicht seltener beleidigt durch eine
sozial-pädagogisch wertvolle Kommunikationskultur.
Was also tun wir, um unsere Urteilskraft zu verbessern? Wir
fasten. Wenn wir ein paar Wochen nichts gegessen haben, wissen wir wieder was
Hunger ist. Vielleicht pfeifen wir auch auf die Warnungen der
Gesundheitsapostel und fühlen uns dadurch gesünder. Ab und an lenken wir unseren
Blick auf die Gewaltdarstellungen aus unserer breiten Medienlandschaft, dann
wirkt unser Familienleben wieder wunderbar harmonisch.
Soll ich jetzt anfangen, meine Tochter zu schlagen damit sie
versteht was wirklicher Schmerz ist? Damit sie ihren Vergleichsmaßstab anpasst?
Ach nein. Dann ertrage ich doch lieber ihre Klagelieder und nehme sie als einen
Teil der Skala hin, deren andere Seite lautes Gelächter verspricht.