Mittwoch, 20. April 2016

Gerechtigkeit

1. Gleichheit
Auf jeden Teller eine Schöpfkelle Kartoffeln, eine kleine Kelle Rührei und eine große Kelle Spinat. Dann der Nächste. Wieder eine Schöpfkelle Kartoffeln, da passen so 5 bis 6 Stück drauf, je nach Größe. Heute ist das nicht so genau zu erkennen. Verkocht. Zu Kartoffelmasse zusammengeklumpt. Dafür kullert nichts weg. Lässt sich gut abspachteln und gerechter portionieren. Als nächstes die kleine Kelle Rührei, da muss man genau sein, sonst gibt es gleich wieder Beschwerden, dass der Vordermann mehr hatte. Mittlerweile hat man das aber gut im Gespür. Man geht eher nach dem Gewicht als nach dem Augenmaß. Rührei kann täuschen. Aufgebauscht wirkt es viel mehr als platt. Zuletzt der Spinat. Da kommt es auf den Schwung an, sonst spritzt es. Am Kelledrehen bei halbflüssigen Inhalten kann man bei Unsereinem die Spreu vom Weizen trennen. Nächster Teller. Und schon wird man angesprochen. Unangenehm. Die müssten doch mittlerweile wissen, dass es hier keine Extrawürste gibt. Wohl ein Neuer. Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder mehr will? Ist alles auf den Cent genau gerechnet. Wenn es heute Rührei mit Spinat gibt, was billig ist, ist morgen Riesenschnitzel drin. Aber nur mit genug Milch im Rührei und Wasser im Spinat. Selbst wenn mal was übrig bleibt, das kann man ja nicht vorher wissen, dass heute Hinz und Kunz erkrankt sind oder Spinat nicht essen. Jedem steht seine Portion zu und die muss dann auch da sein. Früher hab ich mal Ausnahmen gemacht. Bei so großen Jungen hab ich mich erweichen lassen und was draufgetan. Das hat sich rumgesprochen. Gleich wollten alle mehr. Natürlich nur beim Riesenschnitzel, nie beim Spinat. Und dann weiß man nicht, ob der kleine Schmächtige nicht eher was braucht als der große Kräftige. Wer ist man, das zu entscheiden. Als die Kasse leer war, war Endstation. Seitdem gibt es keine Sonderbehandlung. Jedem seinen Teil. Und wenn Einer Allergien hat, muss er sich halt was mitbringen. Für solche Sperenzchen ist hier kein Platz. Früher hat auch keiner gefragt, ob man den Fraß verträgt, da war man froh, wenn es irgendwie zu schlucken ging. Heute hat Jeder irgendwas. Das kann man sich nicht merken. Außerdem ist das auch zu praktisch. Gibt immer eine Ausrede. Aber hier gilt das nicht. Wenn du was Besonderes sein willst, dann werde Superstar oder Super-Sonstwas, dann kannst du dir Sperenzchen leisten, egal ob Eselsmilch oder ein Haufen Matratzen auf einer Erbse. Sonst sind nämlich die Ehrlichen am Ende immer die Dummen. Die Anderen haben alle ihre Ausreden und bekommen mehr und die Ehrlichen haben nichts. Denen kann man dann auch nur raten, sich was einfallen zu lassen. Und da mach ich nicht mit. Wenn alle sich nur noch die Hucke vollhauen, da bin ich raus. Ich schnall das nicht. Das war früher schon so, da wurden hinter meinem Rücken immer so Dinger gedreht und am Ende musste ich es ausbaden. Damit ist Schluss. Mich vergackeiert Keiner mehr. Einfach nicht antworten. Die geben früher oder später auf. Und gegen das Mürrische wird man abgehärtet so über die Jahre. Dankt einem ja doch Niemand, wenn man nett ist. Gibt nur wieder Beschwerden, wenn man am nächsten Tag weniger nett ist. Je weniger Beschwerden umso besser. Auf die Kellen achten, dann flutscht es. Eine Schöpfkelle Kartoffeln, eine kleine Kelle Rührei und eine große Kelle Spinat. Nächster Teller.

2. Fairness
Ich sortiere Knöpfe. Eigentlich müsste ich weiter Logos von Privatschulen auf Poloshirts anbringen, aber irgendwie bin ich unruhig. Das kommt von den vielen Eindrücken schon auf dem Weg von Zuhause hierher: an jeder Ecke wieder bunte, blinkende, lärmende Etwasse. Sie stürzen sich auf mich und die Warnungen von Mutter mich Schritt auf Schritt zu konzentrieren und die Außenwelt abperlen zu lassen sind brauchlos. Als wäre meine Haut nicht aus festen Zellen gefügt, die dicht an dicht aufgereiht sind, ist sie so dünn, alles geht durch, oder vielleicht sind es auch feine Haarrisse, die die Ärzte nicht sehen können, doch ich spüre es, wie die Dinge in mich eindringen und mich mit ihrem Vielen ausfüllen, dass mir der Schädel, sie sammeln sich immer da oben, zu platzen droht. Zum Glück sind hier in der Näherei Menschen, die verstehen mich, zumindest lassen sie mich das glauben und sie haben mir schon gedankt dafür, dass ich Ordnung schaffe mit meinem Handeln. Und anstatt mich anzuschreien, wie es Andere oft tun, stellen sie die Pflanzen in einen anderen Raum, wenn mich ihr Lebendigsein zu sehr angreift und mir meine Energie abzieht. Das Sortieren der Knöpfe gibt mir wieder etwas mehr Ruhe, wenn die Zeit zerfasert. Ich sortiere nach Farbe und Form oder auch nach speziellen Eigenschaften wie Anzahl der Löcher. Es gibt diese besonderen Knöpfe, die lassen sich nicht einsortieren. So ein dunkelroter in Nacktschnecken-Form mit kleiner Anbringungsschlaufe unten dran. Mit diesen Sonderbaren fühle ich mich verbunden, die sind ein bisschen wie ich. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Anderen, die Lauten mich nicht einsortieren können und damit unzufrieden sind. Ich weiß, es ist schwierig mit mir, aber ich hoffe immer wieder, auf Menschen zu treffen, die anders als die Anderen mehr Offenheit haben. Ich erwarte nicht viel, nur dass ich so sein darf, wie ich bin, ohne mich erklären zu müssen für mein besonderes Gespür und die Handlungen, die daraus folgen. Auch ich habe meine Erfahrungen, die für die Anderen interessant sein können. Wichtig ist da nur die Voraussetzung der Bereitschaft, mir eine eigene Kategorie zu geben, so wie ich dem Nacktschneckenknopf ein eigenes kleines Fach im Kasten genehmige. Aber häufiger werfen sie mich der Einfachheit halber auf die große Resterampe und das ist es, was es am Ende kompliziert macht. Irgendwann haben sie ja vielleicht einen Mantel und erinnern sich an den dunkelroten besonderen Knopf, dass er da ganz gut an den Kragen passen würde, aber dann finden sie mich eben nicht inmitten der Reste-Kollegen und das tut mir dann auch nicht leid. Kann sein, dass es anstrengend ist, wenn es so viele Kategorien werden und so viele kleine Fächer für all die Sonderbaren nötig sind. Andererseits finde ich, die Anderen machen es sich zu leicht, wenn sie nur in zwei Kategorien denken: alt oder jung, männlich oder weiblich, normal oder verrückt. Und klar an ein Hemd passt so ein sonderbarer Knopf natürlich nicht. Wenn sie sich allerdings mal die Mühe machen, ein wenig mehr als sonst zu denken, könnten sie eben auch für diesen Knopf eine Bestimmung finden anstatt ihn auszusortieren. Dann würden sie ihrem vor sich hergetragenen Anspruch fair zu sein irgendwie gerechter, dann würde ich das auch hier im Werk spüren, dass ich wirklich geschätzt werde und nicht nur in dem Glauben gehalten werden soll, es sei so. Ich sollte jetzt lieber wieder mit den Logos weitermachen, sonst platzt denen noch der Kragen. Ich kann nur hoffen, dass die Kinder, die die Schulkleidung vielleicht mal tragen, mehr davon sehen, was da so drin steckt an Liebe von mir.

3. Verdienst
„Sie haben ihr Ziel erreicht“. Und da vorn ist auch schon eine Parklücke. Perfekt. Blinker setzen, Schulterblick, lässig einkurbeln und noch einen Zug nach vorn. Sitzt. Handbremse. Motor aus. Abschnallen. Kurz durchatmen. Noch fünf Minuten bis zum Meeting. Makeup-Check im Rückspiegel. Passt. Die Papiere sortieren. Wo ist das Protokoll? Wieso liegt es nicht obenauf? Hat Hässler wieder vergessen auszudrucken. Alte Pappnase. Einmal mit Profis arbeiten. Mannmannmann. Egal, da sind die Stichpunkte von der Telko. Mmh. Sieht düster aus für das Werk. Na mal sehen ob wir die Abwicklung noch abwenden können. Da muss aber gehörig auf die Tube gedrückt werden, damit das noch was wird. Mist: Kaffee ist kalt. Weil alle Welt im Ökowahn ist, gibt es nirgendwo mehr Styroporbecher. Und in den Pappdingern ist alles in Nullkommanichts kalt. Das muss doch nicht sein. Und da drin steht unter Garantie wieder nur diese säuerliche Plörre, seit einem halben Tag im Thermos verbittert. Aber Leistung sollen wir bringen, am besten 200 Prozent. Was denken die eigentlich, wer die sind. Sitzen da und warten auf Rettung. Dass jemand kommt und das Ruder rumreißt. Als ob die die Welt braucht, als ob sich jemand darum schert, ob so eine mittelständische Textilklitsche heute oder morgen abgewickelt wird. Ist doch ganz einfach die Rechnung. Wer liefert, bekommt geliefert. Wir müssen uns die Brötchen auch mühsam verdienen. 60, 70 Stunden pro Woche ackern wir. Da ist ein bisschen Bewegung auf dem Konto wohl nicht zu viel verlangt. Immer verfügbar, selbst im Urlaub auf Abruf. Froh, wenn uns beim Abholen in der Kita noch der Name einfällt. Was soll es, Augen zu und durch. Nur dann wollen wir es eben auch mal krachen lassen. Geiles Gemäuer, Designmöbel, dicke Wagen. Und wenn mal ein paar Stunden Zeit sind, eine kleine Shoppingtour. Abends dann Catwalk im Wohnzimmer. Eheglück. Wenn es klappt. Naja. Egal jetzt. Erst mal den Betrieb hier checken. Danach weitersehen, was heute noch drin ist. Vorher muss allerdings erst der Bericht von letzter Woche raus. Eigentlich schon vorgestern. Hätte Künzle schon längst wegschicken können. Will aber partout erst, dass ich was texte. Sonst fliegen wir aus dem Projekt, sagt er. Als ob wir nicht schon genug um die Ohren hätten. Das käme ihm so zupass. Wir erbringen die ganze Vorleistung und er kassiert Prämienpunkte. Träum weiter. Neeneenee. So nicht. Da bleib ich drin und wenn ich mich um Mitternacht nochmal ransetze. Wir liefern ab. Vor 2 Uhr nachts gibt es ja doch keinen Schlaf. Außer nach 2, 3 Gläschen. Da geht es. Ansonsten Gedankensturm. Kein Wunder. Den ganzen Tag Kundenkontakt. Dann Kinderalarm. Und abends Bürokram. Irgendwas geht immer schief. Das wurmt. Und dann die Stapel, die bleiben. Endlose To-Do-Listen. Ja klar erledigen sich die Dinge irgendwann von selbst. Nur das bringt eben nichts auf Konto. Wir rackern uns ab und am Ende bleibt die Altersarmut. Soweit soll es kommen. Wenn es nach denen geht. Deshalb habe ich auch ein hübsches Sümmchen nach Anderswo transferiert. Wäre ja noch schöner, wenn die ganzen Sozialschmarotzer sich auf unsere Kosten einen faulen Lenz machen. Das nennen die dann gerechte Umverteilung. So, jetzt aber los. Immer schön aufs Timing achten. Und lächeln. Kurzes persönliches Intro. Kommt immer an und schafft Vertrauen. Wir sitzen im selben Boot. Sonst macht die Belegschaft wieder einen auf ahnungslos und Dieanderensindschuld. Jacketknopf schließen. Mappe. Tür auf. Und raus.