Freitag, 25. März 2016

Ode an das Klagelied

Meine Tochter wächst in einer Welt auf, in der sie jederzeit jeden Wunsch erfüllt bekommen kann, sogar Wünsche, von denen sie vorher nichts wusste. Schön, denkt die Mutter und freut sich am Glück. Jedoch nicht lange. Eine kleine Verzögerung, eine winzige Verletzung, eine harmlose Kränkung und schon wird großes Drama geboten. Meine Tochter klagt über Nichtigkeiten. Woher auch soll sie wissen, was Leid ist, wenn sie es nicht kennt?
Wenn man Menschen eine Skala von positiv bis negativ gibt und sie darauf Bilder, Wörter oder Erlebnisse einschätzen lässt, verteilen sie die Skalenwerte mehr oder weniger gleichmäßig auf das angebotene Material unabhängig davon, wie sich dieses in Relation zum in der restlichen Welt verfügbaren Material verhält. Das heißt ein Bild von einem Stuhl wird positiv, wenn die anderen Bilder blutende Terroranschlagsopfer zeigen, oder negativ, wenn auf den anderen Bildern lächelnde Kleinkinder zu sehen sind. Das funktioniert sogar, wenn wir die Größe eines identischen Kreises beurteilen sollen, der einmal von kleinen Kreisen umgeben ist und einmal von großen – der Erstere wirkt größer. Die Psychologen nennen diesen Effekt Kontrasteffekt. Da wir die meisten unserer Urteile auf Dimensionen ohne Endpunkte fällen, benötigen wir einen Vergleichsmaßstab, um urteilen zu können. Diesen Vergleichsmaßstab generieren wir aus dem aktuell verfügbaren Material oder auch aus unserem Erfahrungsschatz, wodurch das resultierende Urteil entsprechend verzerrt wird. Als logische Konsequenz auf Urteile zu verzichten erscheint einleuchtend, doch selten praktikabel, da jedwede Alltagsentscheidung von ihnen abhängt. Wir müssen entscheiden, ob wir etwas essen sollten und dafür benötigen wir ein Urteil über unseren Sattheitsgrad. In einer Welt in der wir eigentlich immer satt sind, ist ein kleines bisschen weniger satt schon hungrig. Also essen wir zu viel. Nur dass es nichts nützt, wir werden nicht mehr satter. Genauso wenig wie wir uns weniger krank fühlen durch eine bessere medizinische Versorgung und gesündere Lebensbedingungen. Und wir sind auch nicht seltener beleidigt durch eine sozial-pädagogisch wertvolle Kommunikationskultur.
Was also tun wir, um unsere Urteilskraft zu verbessern? Wir fasten. Wenn wir ein paar Wochen nichts gegessen haben, wissen wir wieder was Hunger ist. Vielleicht pfeifen wir auch auf die Warnungen der Gesundheitsapostel und fühlen uns dadurch gesünder. Ab und an lenken wir unseren Blick auf die Gewaltdarstellungen aus unserer breiten Medienlandschaft, dann wirkt unser Familienleben wieder wunderbar harmonisch.
Soll ich jetzt anfangen, meine Tochter zu schlagen damit sie versteht was wirklicher Schmerz ist? Damit sie ihren Vergleichsmaßstab anpasst? Ach nein. Dann ertrage ich doch lieber ihre Klagelieder und nehme sie als einen Teil der Skala hin, deren andere Seite lautes Gelächter verspricht.

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