Donnerstag, 15. Januar 2015

Pegida - unser verstoßenes Kind. Wofür Pegida und die "Anständigen" einander brauchen.

Ich bin ein Mitglied der deutschen Gesellschaft, sie erwartet von mir, dass ich mein Geld mit einer mich erfüllenden Arbeit verdiene, zwei Kinder pädagogisch wertvoll erziehe, Steuern zahle, mit moderner Technik zurechtkomme, Formulare korrekt ausfülle, Müll trenne, eine gleichberechtigte Partnerschaft führe, mein soziales Netz pflege, hunderte Seiten von Wahlprogrammen durcharbeite und mich reflektiert entscheide, mich weiterbilde, meinen Körper mit Sport fit halte, sowohl sprachlich korrekt als auch gewaltfrei kommuniziere, mich mindestens vegetarisch ernähre und so weiter und so fort. Keiner meiner Freunde und Bekannten (und die meisten sind vom Schicksal begünstigt) erfüllt die Ansprüche, die die Gesellschaft an uns stellt. Jeder hat ein schlechtes Gewissen. Ich selbst finde den Biomüll zu eklig, arbeite weniger als mein mehr verdienender Mann, klicke mich höchstens durch den Wahlomaten, um dann doch das zu wählen was ich schon immer gewählt habe, vernachlässige die Verb-Endstellung in weil-Sätzen und vieles mehr. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir bei Amazon ein Buch bestelle, wenn ich eine Scheibe Wurst esse oder von meinem Kind genervt bin. Den Pegida-Menschen geht es nicht anders. Wenn sie die Zeitungen aufschlagen, wird ihnen von jedem zweiten Artikel ein schlechtes Gewissen gemacht, allgemein „Deutsche essen zu viel X“ oder personalisiert „Y wird Raserei vorgeworfen“. Viele der Missetaten haben sie selbst schon begangen. Und wenn sie versuchen, sich hinter dem eigenen Opfersein zu verstecken, werden sie der Jammerei bezichtigt und statt Mitleid ernten sie neuerliche Belehrungen. Du bist für dein Schicksal verantwortlich, nimm es in deine eigenen Hände. Selbst wenn du krank wirst, hast du irgendwie bestimmt etwas falsch gemacht, vielleicht nicht ordentlich Hände gewaschen.   
Wie reagieren Menschen, wenn sie mit Vorwürfen in die Ecke gedrängt werden? Sie schlagen wild um sich. Oder sie suchen sich einen Schwächeren, auf den sie die Verantwortung abwälzen. Pegida macht beides. Sie beschuldigen Mama Merkel und Papa Presse und attackieren ihr Geschwisterkind den Asylbewerber, der, weil er kleiner ist, von den Eltern nachsichtiger behandelt wird.
Und die Nicht-Pegida? Denen ist ebenfalls geholfen, denn sie als Streber-Kinder stehen fein da neben den Schmuddelgeschwistern. Da erscheinen all ihre Sünden mickrig. Zum Glück gibt es die Pegida und damit ein Ziel für die Empörung und den ausgestreckten Zeigefinger: „Der war’s!“
Was daraus folgt? Wir können so weiter machen wie bisher und das unliebsame Kind Pegida aus unserer Familie ausstoßen. Gemäß der Theorie der selbsterfüllenden Prophezeiung wird das unliebsame Kind dadurch mit großer Wahrscheinlichkeit erst recht zum Verbrecher. Gemäß der Sündenbock-Theorie müssen wir uns danach einen neuen Sündenbock suchen (vielleicht können wir ja zurück zu den Griechen, den Stiefgeschwistern). Gemäß der Theorie des inneren Teams führt die Nicht-Akzeptanz von ungeliebten Mitgliedern zum Kontrollverlust über diese.
Oder aber, wir nehmen das unliebsame Kind an wie es ist. Wir nehmen die Gesellschaft an wie sie ist. Wir nehmen uns selbst an wie wir sind. – Nicht ganz perfekt und noch hier und da entwicklungsfähig, aber im Grunde gar nicht so schlecht. Anstatt immerzu Schuldige zu suchen und einander zu beschuldigen, könnten wir lernen zu verzeihen und das Positive am Gegenüber, uns selbst, am Anderen zu sehen. Im besten Fall geben wir damit ein gutes Vorbild.
Wie das gehen soll? Wenn wir Pegida als Teil von uns akzeptieren, dann werden wir tief in uns die Angst sehen: vor dem Fremden, vor der unsicheren Zukunft, vielleicht vor Leiden und Endlichkeit. Wenn wir versuchen das Positive an dieser Angst zu sehen, können wir erkennen, dass sie uns schon oft vor Dummheiten geschützt hat. Wir können überlegen, wie viel Raum wir der Angst geben wollen, wo wir vielleicht zu waghalsig sind oder wo wir uns Mut machen wollen, um sie zu überwinden.
Hören wir auf zu widersprechen, fangen wir an zuzuhören. Hören wir auf zu kritisieren, fangen wir an wertzuschätzen. Hören wir auf zu verstoßen, fangen wir an anzunehmen.

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