Ich bin ein Mitglied der deutschen Gesellschaft,
sie erwartet von mir, dass ich mein Geld mit einer mich erfüllenden Arbeit
verdiene, zwei Kinder pädagogisch wertvoll erziehe, Steuern zahle, mit moderner
Technik zurechtkomme, Formulare korrekt ausfülle, Müll trenne, eine
gleichberechtigte Partnerschaft führe, mein soziales Netz pflege, hunderte
Seiten von Wahlprogrammen durcharbeite und mich reflektiert entscheide, mich
weiterbilde, meinen Körper mit Sport fit halte, sowohl sprachlich korrekt als
auch gewaltfrei kommuniziere, mich mindestens vegetarisch ernähre und so weiter
und so fort. Keiner meiner Freunde und Bekannten (und die meisten sind vom
Schicksal begünstigt) erfüllt die Ansprüche, die die Gesellschaft an uns
stellt. Jeder hat ein schlechtes Gewissen. Ich selbst finde den Biomüll zu
eklig, arbeite weniger als mein mehr verdienender Mann, klicke mich höchstens
durch den Wahlomaten, um dann doch das zu wählen was ich schon immer gewählt
habe, vernachlässige die Verb-Endstellung in weil-Sätzen und vieles mehr. Ich
habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir bei Amazon ein Buch bestelle, wenn
ich eine Scheibe Wurst esse oder von meinem Kind genervt bin. Den Pegida-Menschen
geht es nicht anders. Wenn sie die Zeitungen aufschlagen, wird ihnen von jedem
zweiten Artikel ein schlechtes Gewissen gemacht, allgemein „Deutsche essen zu
viel X“ oder personalisiert „Y wird Raserei vorgeworfen“. Viele der Missetaten
haben sie selbst schon begangen. Und wenn sie versuchen, sich hinter dem
eigenen Opfersein zu verstecken, werden sie der Jammerei bezichtigt und statt
Mitleid ernten sie neuerliche Belehrungen. Du bist für dein Schicksal
verantwortlich, nimm es in deine eigenen Hände. Selbst wenn du krank wirst,
hast du irgendwie bestimmt etwas falsch gemacht, vielleicht nicht ordentlich
Hände gewaschen.
Wie reagieren Menschen, wenn sie mit Vorwürfen in
die Ecke gedrängt werden? Sie schlagen wild um sich. Oder sie suchen sich einen
Schwächeren, auf den sie die Verantwortung abwälzen. Pegida macht beides. Sie
beschuldigen Mama Merkel und Papa Presse und attackieren ihr Geschwisterkind
den Asylbewerber, der, weil er kleiner ist, von den Eltern nachsichtiger
behandelt wird.
Und die Nicht-Pegida? Denen ist ebenfalls
geholfen, denn sie als Streber-Kinder stehen fein da neben den
Schmuddelgeschwistern. Da erscheinen all ihre Sünden mickrig. Zum Glück gibt es
die Pegida und damit ein Ziel für die Empörung und den ausgestreckten
Zeigefinger: „Der war’s!“
Was daraus folgt? Wir können so weiter machen wie
bisher und das unliebsame Kind Pegida aus unserer Familie ausstoßen. Gemäß der
Theorie der selbsterfüllenden Prophezeiung wird das unliebsame Kind dadurch mit
großer Wahrscheinlichkeit erst recht zum Verbrecher. Gemäß der
Sündenbock-Theorie müssen wir uns danach einen neuen Sündenbock suchen
(vielleicht können wir ja zurück zu den Griechen, den Stiefgeschwistern). Gemäß
der Theorie des inneren Teams führt die Nicht-Akzeptanz von ungeliebten Mitgliedern
zum Kontrollverlust über diese.
Oder aber, wir nehmen das unliebsame Kind an wie
es ist. Wir nehmen die Gesellschaft an wie sie ist. Wir nehmen uns selbst an
wie wir sind. – Nicht ganz perfekt und noch hier und da entwicklungsfähig, aber
im Grunde gar nicht so schlecht. Anstatt immerzu Schuldige zu suchen und
einander zu beschuldigen, könnten wir lernen zu verzeihen und das Positive am
Gegenüber, uns selbst, am Anderen zu sehen. Im besten Fall geben wir damit ein
gutes Vorbild.
Wie das gehen soll? Wenn wir Pegida als Teil von
uns akzeptieren, dann werden wir tief in uns die Angst sehen: vor dem Fremden,
vor der unsicheren Zukunft, vielleicht vor Leiden und Endlichkeit. Wenn wir
versuchen das Positive an dieser Angst zu sehen, können wir erkennen, dass sie
uns schon oft vor Dummheiten geschützt hat. Wir können überlegen, wie viel Raum
wir der Angst geben wollen, wo wir vielleicht zu waghalsig sind oder wo wir uns
Mut machen wollen, um sie zu überwinden.
Hören wir auf zu widersprechen, fangen wir an zuzuhören.
Hören wir auf zu kritisieren, fangen wir an wertzuschätzen. Hören wir auf zu
verstoßen, fangen wir an anzunehmen.
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